Wir müssen über die "Tyrannei der Ungeimpften" reden

Stand: 11.11.2022 | Lesedauer: 4 Minuten

Von Jakob Hayner

"Ihr seid raus aus dem gesellschaftlichen Leben": So lautete vor einem Jahr die offizielle Ansage an die Ungeimpften. Die unglaublichen Sätze, die deutsche Politiker von Lauterbach bis Strack-Zimmermann damals sagten, müssen dringend aufgearbeitet werden - und zwar jetzt. Quelle: picture alliance / CHROMORANGE

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz, notierte der Dichter Bertolt Brecht einst. Und in der Tat, erinnert sich noch jemand, was vor genau einem Jahr hierzulande los war?
Rückblende 8. November 2021: Die ganze Bundesrepublik diskutiert über eine Aussage von Frank Ulrich Montgomery. Der beklagt am Vorabend in der Sendung von Anne Will die "Tyrannei der Ungeimpften". Tyrannei, fragt die Gastgeberin ungläubig. "Ja, ich benutze bewusst den Begriff der Tyrannei", antwortet der Vorsitzende des Weltärztebundes.

Es ist der Auftakt zu einer Eskalation in der deutschen Öffentlichkeit, die bis heute nicht einmal annähernd aufgearbeitet ist. Die öffentlich ausgelebte Straflust gegenüber Ungeimpften kennt kaum ein Halten mehr, man übertrifft sich gegenseitig mit Vorschlägen. Den Ungeimpften die Schuld am erneuten Pandemiegeschehen zu geben bleibt in der politischen und medialen Klasse nahezu unwidersprochen.

"Ihr seid jetzt raus"

Um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, hier eine anekdotische - sicher unvollständige! - Sammlung: "Es ist wichtig, den Ungeimpften eine klare Botschaft zu senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben", sagte der Politiker Tobias Hans (CDU), der knapp fünf Monate später die Wahl im Saarland verlieren sollte. "Ungeimpfte dürfen nicht als Minderheit die Mehrheit terrorisieren", so Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Karl Lauterbach (SPD) sah später "das ganze Land in Geiselhaft dieser Menschen".

Die damalige Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) riet der Bevölkerung ganz konkret, keinen Kontakt mehr zu Ungeimpften zu haben. Ungeimpften wird der Anspruch auf Lohn im Quarantänefall gestrichen. Ärzte geben bekannt, in ihrer Praxis Ungeimpfte nachrangig zu behandeln - oder schließen diese sogar aus. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin schlägt vor, Ungeimpfte für ihre ärztliche Behandlung selbst zahlen zu lassen. Die Ungeimpften werden für die winterliche Überlastung der Kliniken verantwortlich gemacht. Pflegenotstand? Abbau von Intensivbetten? Kein Thema.

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Später folgen Ausgangssperren für Ungeimpfte, liebevoll christlich auch "Advents-Lockdown für Ungeimpfte" genannt. Außer ins Rathaus und in den Supermarkt dürfen die Ungeimpften, wie der damalige Noch-Bundes­gesundheits­minister Jens Spahn (CDU) in aller Schärfe verkündet, sowieso nirgendwo mehr hin. Als auch der Kinder-Impfstoff zugelassen ist, werden ungeimpfte Kinder in der Schule bloßgestellt und benachteiligt, in Brandenburg sogar noch im August 2022. Ungeimpfte Studenten werden von ihren Mitbewohnern aus der WG geekelt, die Universität dürfen sie in manchen Städten gar nicht mehr betreten. Ungeimpfte Obdachlose dürfen sich trotz klirrender Kälte nicht mehr in U-Bahnhöfen aufhalten. An Weihnachten werden Ungeimpfte von ihren Verwandten bei der Familienfeier vor die Tür gesetzt, Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, gibt auf einer Pressekonferenz kurz vor dem Fest bekannt, dass Ungeimpfte "gar nicht feiern" sollten.

Ungeimpfte in der Kirche zum Festtagsgottesdienst? Mancherorts unmöglich. Ein Journalistenkollege ereifert sich, dass es Ungeimpften nicht verboten ist, Weihnachtsbäume zu kaufen - tatsächlich dürfen sie das etwa in NRW nur durch eine gnädige Ausnahmeregelung von der strikten 2G-Norm. Eine Truppe Polizisten in Einsatzkluft stürmt in eine voll besetzte Kneipe in Berlin-Neukölln, blockiert alle Ausgänge und brüllt: "Sitzenbleiben! Impfausweise!" Und im linksliberalen Feuilleton räsonieren irgendwelche Meisterdenker, die "Diskriminierung von Ungeimpften" sei zwar hart, aber "ethisch gerechtfertigt".

Es wird vertuscht und geschwiegen

Wer sich nicht bloß als "Empfänger eines biotechnologischen Updates der Pharmaindustrie" begriff, wie es der Politikwissenschaftler Simon Hegelich im WELT-Interview formulierte, geriet ins Abseits. Wer darauf beharrte, seinen Körper nicht nur vom Staat geleast zu haben - bei unbedingtem Gehorsam und pfleglicher Behandlung -, sondern tatsächlich selbst darüber bestimmen zu dürfen, wurde diffamiert. Die Wortführer dieser Kampagne schweigen bis heute über ihr politisches Versagen, das zugleich ein maßloses moralisches Versagen war.

Der Schaden für das Zusammenleben und die Demokratie ist kaum abzusehen. Ebenso der Schaden für die Glaubwürdigkeit anderer Impfkampagnen, die nicht in erster Linie als gesundheitspolitische Macht­demonstration dienen, auch auf Kosten der körperlichen Unversehrtheit. Doch all das ist kein Thema, es wird lieber vertuscht und geschwiegen. Montgomery, Lauterbach und Co. sind weiter in Amt und Würden. Öffentliches Bedauern oder Bitten um Entschuldigung, wie es sie etwa in Frankreich gegeben hat, sucht man hierzulande vergebens - und das, obwohl sich inzwischen herausgestellt hat, dass die Corona-Schutzimpfung weder die Infektion noch die Weitergabe des Virus wirkungsvoll und dauerhaft verhindert. Der Ausschluss der Ungeimpften, den es in dieser fanatischen Form wohl nur in Deutschland gab, war also nicht nur unmenschlich und eines Rechtsstaats unwürdig, er war auch epidemiologisch äußerst fragwürdig.

Das Gedächtnis der Menschheit ist tatsächlich kurz. Der Spruch von Brecht geht aber noch weiter: Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Auch in dieser Hinsicht wäre es Zeit für eine Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit, denn bei den Problemen, die sich am Horizont der Weltgeschichte andeuten, führt die Hetze gegen vermeintlich daran Schuldige mit Sicherheit ins Unglück. Darüber muss geredet werden, und zwar jetzt.


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